1,3-Butandiol als therapeutische Option bei Makuladegeneration und kognitivem Verfall
Die metabolische Vulnerabilität des Gehirns und der Retina zeigt bemerkenswerte Parallelen, die neue therapeutische Ansätze für altersbedingte neurodegenerative Erkrankungen eröffnen. Ketonkörper, insbesondere β-Hydroxybutyrat (βHB), emergieren als vielversprechende neuroprotektive Metabolite, die ohne strenge diätetische Restriktion durch Supplementation mit 1,3-Butandiol (BD) induziert werden können.
Die Retina ist eine Erweiterung des zentralen Nervensystems und teilt mit dem Gehirn fundamentale Pathomechanismen bei Alzheimer-Krankheit (AD) und altersbedingter Makuladegeneration (AMD). Pathologische Veränderungen bei AD manifestieren sich konsistent in der Retina: Amyloid-β-Plaques wurden in Retinae von AD-Patienten – einschließlich früher Stadien – nachgewiesen, hyperphosphoryliertes Tau akkumuliert in verschiedenen retinalen Schichten, und retinale Ganglienzellverlust korreliert mit kognitiver Beeinträchtigung.
OCT-Studien zeigen bei AD-Patienten signifikante Verdünnung der retinalen Nervenfaserschicht (RNFL), des Ganglionzellkomplexes und der äußeren nukleären Schicht (ONL). Diese strukturellen Veränderungen korrelieren mit der Schwere der Demenz und spiegeln retrograde transynaptische Degeneration wider. Die mittlere makuläre Dicke zeigt signifikante Assoziationen mit kognitiven Scores (Mini-Cog: β = 0,583, p = 0,002).
Das retinale Pigmentepithel metabolisiert Fettsäuren aus phagozytierten Photorezeptor-Außensegmenten zu β-Hydroxybutyrat, einem Ketonkörper, den die Retina als Energiesubstrat nutzt. Diese metabolische Kopplung ist essentiell für die retinale Funktion. RPE-Zellen exprimieren SCOT und BDH1 – Schlüsselenzyme des Ketonkörperstoffwechsels – und transportieren βHB via Monocarboxylat-Transporter 1 (MCT1) zu Photorezeptoren.
Die Retina konsumiert nicht nur Glukose, sondern auch Fettsäuren und Ketonkörper. Cone-reiche Retinae und die neuronale Makula zeigen aktivere Glykolyse und mitochondrialen Metabolismus als die stäbchenreiche periphere Retina. RPE und Photorezeptoren haben spezifische, komplementäre Nährstoffprofile, die ihre enge metabolische Kommunikation unterstützen.
Pharmakologische Eigenschaften: 1,3-Butandiol wird in der Leber zu β-Hydroxybutyrat metabolisiert und induziert systemische Ketose ohne diätetische Intervention. Bereits in den 1990er Jahren zeigten Studien, dass BD die zerebrale Energiemetabolik nach ischämischen Insulten verbessert: ATP- und Phosphokreatin-Konzentrationen stiegen, während Laktat um 13-46% sank. Der anti-ödematöse Effekt konnte nicht durch osmotische Mechanismen erklärt werden, sondern basierte auf zerebraler Ketonkörperutilisation.
 
															Reduzierte Neuroinflammation: Geringere pro-inflammatorische Signalwege und gliale Aktivierung im Hippocampus verglichen mit Kontrollen und isoenergetically pair-fed Gruppen
Antioxidative Protektion: Höhere Nrf2-Spiegel, reduzierte Lipidhydroperoxide, geringere Proteinoxidation und erhöhte Aktivität antioxidativer Enzyme (SOD-2, Glutathionreduktase, Glutathionperoxidase)
Attenuierter ER-Stress: Verringerter endoplasmatisches Retikulum-Stress und reduzierte autophagische Aktivierung - Effekte, die nicht durch Kalorienrestriktion allein erklärbar waren
Synaptische Neuroplastizität: Erhöhte Expression von BDNF sowie präsynaptischen Proteinen (Synaptophysin, Synaptotagmin)
Diese Befunde unterstreichen, dass BD neuroprotektive Effekte über bloße Energierestriktion hinaus vermittelt.
Diabetische Retinopathie: Systemische βHB-Administration (50-100 mg/kg i.p., zweimal wöchentlich über 10 Wochen) verbesserte bei diabetischen Mäusen signifikant die retinalen BDNF-Spiegel (p < 0,01). Diese Verbesserung war assoziiert mit reduzierter Autophagosom-Lysosom-Formation, erhöhten Connexin-43-Spiegeln (Marker für zelluläre Integrität) und verminderter M1-Mikroglia-Aktivierung.
Blut-Retina-Schranke: βHB aktiviert den Hydroxycarboxylsäure-Rezeptor 2 (HCAR2/GPR109A), der kritisch für die Integrität der Blut-Retina-Schranke ist. HCAR2/GPR109A wird sowohl in RPE als auch in retinalen Endothelzellen exprimiert. siRNA-Knockdown oder genetische Deletion des Rezeptors führte zu beeinträchtigter Barrierefunktion in vitro und in vivo. βHB-Behandlung limitierte VEGF-induzierte und LPS-induzierte Barriere-Disruption rezeptorabhängig und verbesserte retinale Funktion (OptoMotry).
Retinale Degeneration: Eine Studie mit rd10-Mäusen (Modell für hereditäre Photorezeptordegeneration) zeigte, dass eine ketogene & proteinarme Diät die retinale Degeneration verlangsamte. Rd10-Mäuse auf dieser Diät wiesen signifikant erhöhte Photorezeptordicke, ERG-Amplituden (1,8-fach erhöhte b-Welle und a-Welle) und verbesserte optokinetische Schwellenwerte auf. Die Kombination aus Ketose und Proteinreduktion war entscheidend – reine ketogene Diät ohne Proteinreduktion zeigte keine Photorezeptor-Preservation.
Pathophysiologische Rationale: AMD und AD teilen zentrale Mechanismen: oxidativer Stress, mitochondriale Dysfunktion, chronische Inflammation, vaskuläre Dysregulation und Proteinaggregation. Drusen-Proteine werden polarisiert von RPE-Zellen via extrazelluläre Vesikel sekretiert, deren Richtung (apikal vs. basal) unter AMD-Stressoren moduliert wird.
Ketone als Neuroprotektoren: Ketonkörper verbessern mitochondriale ATP-Produktion, reduzieren ROS-Generierung, senken Aβ-Spiegel und wirken anti-inflammatorisch. In Parkinson-Modellen schützte βHB mesenzephale Neuronen vor MPP⁺-Toxizität durch verbesserte oxidative Phosphorylierung. Ähnliche Mechanismen sind für Photorezeptoren und RPE relevant.
Klinische Forschungsinitiative: Das Oklahoma Medical Research Foundation erhielt 2024 ein NIH-Grant über 2,5 Millionen USD zur Untersuchung, ob eine ketogene Diät AMD-Progression stoppen kann. Die Forscher erwarten, dass ketogene Ernährung (reich an Kreuzblütlern wie Brokkoli, Kale) die Veränderungen in retinalen Zellen, die AMD vorausgehen, verhindern kann. Vorarbeiten zeigten, dass Kreuzblütler-Gemüse – Bestandteile ketogener Diäten – Potential zur Preservation der bei AMD absterbenden retinalen Zellen besitzen.
Epidemiologische Hinweise: Adherenz an mediterrane Ernährung (die moderate Ketose fördern kann) war in AREDS/AREDS2 mit reduziertem Risiko für späte AMD assoziiert (HR Tertile 3 vs. 1: 0,74; 95% CI 0,71-0,85; p < 0,0001). Insbesondere Fischkonsum zeigte protektive Effekte, die mit CFH-Genvarianten interagierten.
Regulatorischer Status: BD ist von der FDA als „Generally Recognized As Safe“ (GRAS) eingestuft. Klinische Studien evaluieren BD derzeit bei Diabetes und Suchterkrankungen.
Translationaler Ausblick: Die präklinischen Daten zu BD zeigen einzigartige neuroprotektive Effekte unabhängig von Kalorienrestriktion. Für ophthalmologische Indikationen erscheinen folgende Mechanismen relevant:
Oxidativer Stress: Nrf2-Aktivierung und erhöhte antioxidative Enzymaktivität könnten RPE vor A2E-induzierter Toxizität schützen
BDNF-Induktion: Erhöhte retinale BDNF-Spiegel unter βHB sind für Photorezeptor- und Ganglienzell-Survival essentiell
Blut-Retina-Schranke: HCAR2/GPR109A-Aktivierung durch βHB stabilisiert iBRB und oBRB
Mitochondriale Effizienz: Verbesserte ATP-Produktion in energetisch hochaktiven Geweben wie Photorezeptoren
Patientenidentifikation: Patienten mit früher AMD, diabetischer Retinopathie oder kognitiven Beeinträchtigungen könnten von ketogenen Interventionen profitieren. Die Kombination von retinalen Veränderungen (RNFL-Verdünnung, Drusen) mit kognitiven Defiziten sollte als systemisches neurodegeneratives Syndrom erkannt werden.
Ernährungsberatung: Während klassische ketogene Diäten für ältere Patienten und Diabetiker schwer umsetzbar sind, könnten BD-Supplemente eine praktikable Alternative darstellen. Die OMRF-Studie zu ketogener Diät bei AMD wird wichtige klinische Daten liefern.
Biomarker-Strategie: OCT-Parameter (RNFL, GCC, makuläre Dicke) und Fundusautofluoreszenz könnten als Surrogatmarker für neuroprotektive Interventionen dienen. Serumketonkörper-Monitoring würde die metabolische Compliance erfassen.
Kombinations-Ansätze: BD könnte mit etablierten AMD-Therapien (Anti-VEGF) oder antioxidativen Supplementen (Lutein, Zeaxanthin, Omega-3) synergistisch wirken. Die mediterrane Diät – die moderate Ketose fördert – zeigte bereits AMD-protektive Effekte.
Randomisierte kontrollierte Studien mit BD bei AMD, diabetischer Retinopathie oder frühen neurodegenerativen Erkrankungen mit retinalen Endpunkten fehlen vollständig. Zukünftige Studien sollten umfassen:
Phase-II-Studien zu BD-Supplementation bei früher AMD mit OCT-Progressionsparametern als primäre Endpunkte
Dosisfindungsstudien (übliche Dosierungen: 25-100 mg/kg bei Tieren; human-äquivalente Dosen zu definieren)
Mechanistische Studien zu HCAR2/GPR109A-Expression und βHB-Spiegeln in Kammerwasser
Kombinationsstudien BD + Anti-VEGF bei neovaskulärer AMD
Longitudinale Kohorten mit synchronem retinalem und kognitiven Monitoring
Die Evidenz für neuroprotektive Effekte ketogener Metabolite auf Retina und Gehirn ist mechanistisch robust und translational vielversprechend. 1,3-Butandiol induziert Ketose ohne diätetische Restriktion und zeigt in präklinischen Modellen einzigartige anti-inflammatorische, antioxidative und synaptoplastische Effekte, die über bloße Energierestriktion hinausgehen. Die metabolische Kopplung zwischen RPE und Photorezeptoren via Ketonkörper-Shuttling unterstreicht die physiologische Relevanz dieser Substrate für die retinale Gesundheit.
Fazit: Eine gemeinsame Pathologie?
Die Ähnlichkeit zwischen Drusen bei AMD und Amyloid-Plaques bei Alzheimer weist auf gemeinsame Mechanismen hin:
 
															Für ophthalmologische Patienten – insbesondere jene mit AMD, diabetischer Retinopathie oder komorbiden kognitiven Beeinträchtigungen – könnte BD als adjuvante neuroprotektive Strategie dienen. Die laufende OMRF-Studie zu ketogener Diät bei AMD sowie präklinische Daten zu βHB-vermittelter Blut-Retina-Schranken-Stabilisierung, BDNF-Induktion und Mikrogliamodulation bieten substantielle Rationale für klinische Translation. Die Retina als „Fenster zum Gehirn“ könnte nicht nur diagnostische, sondern auch therapeutische Synergien zwischen ophthalmologischer und neurologischer Neuroprotektion eröffnen – ein Paradigma, das zunehmend an Bedeutung gewinnt.
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