Neue Erkenntnisse zu einer seltenen Netzhauterkrankung
Als Augenarzt begegne ich gelegentlich Patienten mit der makulären Telangiektasie Typ 2 (MacTel-2), einer seltenen, aber faszinierenden Netzhauterkrankung. In den letzten Jahren haben bahnbrechende Forschungsergebnisse unser Verständnis dieser Erkrankung revolutioniert und zeigen, dass MacTel-2 primär eine Stoffwechselerkrankung ist, die durch Defekte im Serinmetabolismus verursacht wird.
Ein Fakt zu MacTel-2 ist, dass es sich um die häufigste Form der Makulären Teleangiektasie handelt, eine seltene, fortschreitende Augenerkrankung, bei der sich die Blutgefäße in der Makula erweitern und undicht werden, was zu einer Verschlechterung des zentralen Sehvermögens führt.
Die makuläre Telangiektasie Typ 2 ist eine degenerative Erkrankung der zentralen Netzhaut, die typischerweise zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr beginnt. Charakteristisch sind Gefäßveränderungen in der Makula, der Verlust bestimmter Zelltypen und eine langsam fortschreitende Verschlechterung der zentralen Sehschärfe.
Mit einer Prävalenz von nur etwa 0,02-0,1 Prozent ist MacTel-2 zwar selten, aber für die Betroffenen oft verheerend. Die Erkrankung zeigt eine starke familiäre Häufung, was auf genetische Faktoren hindeutet, aber das Vererbungsmuster war lange Zeit rätselhaft.
Genomweite Assoziationsstudien und hochmoderne Metabolomanalysen brachten den entscheidenden Durchbruch: Patienten mit MacTel-2 haben signifikant niedrigere Serinspiegel im Blut als gesunde Kontrollpersonen. Serin ist eine semi-essentielle Aminosäure, die in zahlreichen Stoffwechselwegen eine zentrale Rolle spielt.
Besonders wichtig ist Serin für die Biosynthese von Sphingolipiden – komplexen Fettmolekülen, die essentiell für die Struktur und Funktion von Zellmembranen sind. Diese Entdeckung hat unser Verständnis von MacTel-2 grundlegend verändert.
Das Enzym Serinpalmitoyltransferase (SPT) katalysiert den ersten und geschwindigkeitsbestimmenden Schritt der Sphingolipid-Biosynthese. Normalerweise reagiert Serin mit Palmitoyl-CoA zu 3-Ketosphinganin, dem Vorläufer aller Sphingolipide.
Wenn Serin knapp wird, greift die SPT auf alternative Substrate zurück – hauptsächlich Alanin und Glycin. Dies führt zur Bildung atypischer 1-Deoxysphingolipide, die normalerweise nur in sehr geringen Mengen vorkommen.
1-Deoxysphingolipide sind problematisch, weil sie strukturell anders sind als normale Sphingolipide und nicht durch die üblichen Stoffwechselwege abgebaut werden können. Sie akkumulieren in Zellmembranen und stören deren normale Funktion erheblich.
Diese atypischen Lipide sind hochgradig neurotoxisch und können Zellstress, mitochondriale Dysfunktion, Entzündungen und letztendlich Zelltod verursachen. Bei MacTel-2-Patienten sind die Deoxysphingolipid-Spiegel im Blut um über 80 Prozent erhöht im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen.
Eine überraschende Entdeckung war die Verbindung zwischen MacTel-2 und der hereditären sensorischen und autonomen Neuropathie Typ 1 (HSAN1). Mutationen im SPTLC1-Gen, das für eine Untereinheit der Serinpalmitoyltransferase kodiert, können beide Erkrankungen verursachen.
In einer Studie mit 11 HSAN1-Patienten hatten neun bereits eine nicht diagnostizierte MacTel-2, und zwei weitere zeigten Frühzeichen der Erkrankung. Dies zeigt, dass genetische Defekte in der Sphingolipid-Biosynthese sowohl periphere Neuropathien als auch Netzhautdegenerationen verursachen können.
Serin kann aus Glycin synthetisiert werden, aber dieser Prozess benötigt aktive Folatverbindungen, insbesondere N⁵,N¹⁰-Methylentetrahydrofolat. Das Enzym Serinhydroxymethyltransferase katalysiert diese Reaktion und ist damit ein kritischer Baustein der Serinbiosynthese.
Bei manchen MacTel-2-Patienten finden sich Mutationen in Genen der Serinbiosynthese wie PHGDH, dem ersten Enzym der De-novo-Serinsynthese aus Glucose. Dies unterstreicht die zentrale Bedeutung des Serinstoffwechsels für diese Erkrankung.
Das Verständnis der zugrunde liegenden Stoffwechselstörungen eröffnet neue therapeutische Möglichkeiten. Serinsubstitution könnte theoretisch den Mangel ausgleichen und die Bildung toxischer Deoxysphingolipide reduzieren.
Erste Studien mit L-Serin-Supplementierung bei HSAN1-Patienten zeigten vielversprechende Ergebnisse mit einer Reduktion der Deoxysphingolipid-Spiegel im Blut und Hinweisen auf klinische Stabilisierung.
Für MacTel-2 wurde eine Phase-2a-Studie (SAFE-Studie) durchgeführt, die die Wirkung von Serinsupplementation und/oder Fenofibrat auf die Deoxysphingolipid-Konzentrationen untersuchte. Die Ergebnisse werden derzeit ausgewertet und könnten wegweisend für zukünftige Therapien sein.
Da die Serinsynthese aus Glycin folatabhängig ist, könnte auch die Optimierung des Folatstatus relevant sein. Besonders die aktive Form 5-Methyltetrahydrofolat (L-Methylfolat) könnte bei Patienten mit gestörter Folatmetabolisierung wichtig sein.
Genetische Varianten in der Methylentetrahydrofolat-Reduktase (MTHFR) sind häufig und können die Folatverwertung beeinträchtigen. Bei MacTel-2-Patienten könnte eine Testung auf solche Varianten sinnvoll sein.
Die Entdeckung der Serin-Deoxysphingolipid-Achse eröffnet neue diagnostische Möglichkeiten. Die Messung von Serienspiegeln und Deoxysphingolipiden im Blut könnte frühe Biomarker für MacTel-2 liefern, noch bevor strukturelle Netzhautveränderungen sichtbar werden.
Dies ist besonders wichtig, da MacTel-2 in frühen Stadien oft symptomlos verläuft und erst bei fortgeschrittenen Veränderungen diagnostiziert wird. Eine frühere Diagnose könnte den Weg für präventive Interventionen ebnen.
Die Stoffwechselwege, die bei MacTel-2 gestört sind, spielen auch bei anderen Erkrankungen eine Rolle. Sphingolipidstörungen sind bei verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen, Diabetes und sogar Krebserkrankungen beschrieben.
Dies unterstreicht die systemische Bedeutung des Serin-Sphingolipid-Stoffwechsels und könnte erklären, warum MacTel-2-Patienten manchmal auch andere gesundheitliche Probleme haben.
MacTel-2 illustriert auf beeindruckende Weise, wie moderne Genomik und Metabolomik unser Verständnis seltener Erkrankungen revolutionieren können. Die Identifizierung des Serinmangels als zentraler pathophysiologischer Mechanismus hat nicht nur neue therapeutische Perspektiven eröffnet, sondern auch unser Verständnis für die Rolle des Lipidstoffwechsels bei Netzhauterkrankungen grundlegend erweitert.
Die Hoffnung auf eine wirksame Behandlung für MacTel-2 ist heute größer denn je, und die gewonnenen Erkenntnisse könnten auch für andere neurodegenerative Augenerkrankungen von Bedeutung sein.
Gantner et al. New England Journal of Medicine (2019), Sharma et al. Cell Metabolism (2021), SPTLC1-Mutationsstudien, Deoxysphingolipid-Toxizitätsstudien, HSAN1-MacTel-2-Korrelationsstudien, SAFE-Studie-Protokoll.