Hochdosiertes Nicotinamid (Vitamin B3) als neuroprotektive Therapie beim Glaukom:

Chancen, Risiken und offene Fragen

Glaukom gilt als eine der weltweit führenden Ursachen für irreversible Erblindung. Neuere Ansätze der neuroprotektiven Therapie rücken dabei das hochdosierte Nicotinamid (Vitamin B3) zunehmend in den Fokus, insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen metabolischen Verletzbarkeit retinaler Ganglienzellen (RGCs). Aus augenärztlicher Sicht ergibt sich ein vielschichtiges Bild – mit vielversprechenden Daten und relevanten, bislang wenig betrachteten Risiken.

Studienlage und klinischer Nutzen

Mehrere klinische Studien, darunter die Swedish Glaucoma Nicotinamide Trial (SGNT), die Vitamin B3 in Glaucoma Study (VBIGS) und amerikanische Projekte, untersuchen aktuell die Wirkung von 1,5 bis 3 Gramm Nicotinamid pro Tag bei Glaukompatient:innen. Präklinische und erste klinische Ergebnisse zeigen signifikante Verbesserungen in funktionellen Parametern der inneren Retina und zeichnen das Bild einer möglichen Verlangsamung der Krankheitsprogression. Nicotinamid wirkt dabei über die Auffüllung von NAD⁺-Reserven und schützt die Energiebalance der retinalen Ganglienzellen – ein zentraler Mechanismus bei der Glaukomentstehung und -fortschreitung.

Sicherheit und Nebenwirkungen

Die Hochdosis-Therapie geht jedoch mit potenziellen Risiken einher. Während Nicotinamid grundsätzlich als gut verträglich gilt, zeigen neue klinische Daten aus internationalen Multizenter-Studien und Fallberichte, dass vereinzelt Fälle medikamentös induzierter Leberschädigung („Drug-Induced Liver Injury“, DILI) bei Dosierungen von 3 g/Tag auftreten können. Die American Glaucoma Society (AGS) und die American Academy of Ophthalmology (AAO) empfehlen deshalb strenge Sicherheitsprotokolle mit regelmäßigem Monitoring der Leber- und Nierenfunktion sowie eine Zurückhaltung bei Selbstmedikation außerhalb von Studien.​

Methylstoffwechsel und Homocystein – das blinde Feld der aktuellen Forschung

Bisher kaum berücksichtigt in den großen Glaukomstudien ist ein zentraler metabolischer Aspekt: Der Abbau überschüssigen Nicotinamids erfolgt maßgeblich über die Nicotinamid-N-Methyltransferase (NNMT), wobei Methylgruppen – insbesondere aus Betain – verbraucht und das Homocystein erhöht werden kann. Humanstudien aus anderen Disziplinen belegen, dass Nicotinamid bereits in moderaten Dosen die Homocysteinhomöostase stören und Betain als Methylgruppenspender reduzieren kann. Ein erhöhter Homocysteinspiegel gilt als unabhängiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse und kann die endothele Funktion sowie die zelluläre Methylierung beeinflussen. Trotz dieser biochemischen Plausibilität werden in den bisher vorliegenden Glaukomstudien weder Homocysteinwerte noch Status von B-Vitaminen oder Methylgruppenparametern systematisch erfasst, und es findet keine gezielte Supplementierung von Betain, Cholin oder relevanten B-Vitaminen statt.​

Perspektiven für die Weiterentwicklung individualisierter Neuroprotektion

Die Einbeziehung von Homocysteinmessungen, B-Vitaminstatus und gezielten Methylgruppenspendern (Betain, Cholin, Folsäure, Vitamin B6, B12) in die Studiendesigns zukünftiger Forschungsprojekte erscheint dringend geboten, um metabolische Risiken realistisch abschätzen zu können und die Therapien an individuelle Stoffwechselprofile anzupassen. Erste klinische Untersuchungen laufen bereits und bewerten eine Supplementierung mit Vitamin-B-Komplexen und Cholin hinsichtlich der augenbezogenen Endpunkte und der systemischen Wirkung auf den Stoffwechsel.​

Dr. Schüttes Fazit

Hochdosiertes Nicotinamid kann in Studienfunktionalität und Progression beim Glaukom signifikant verbessern und bietet neue Perspektiven im Bereich der Neuroprotektion. Allerdings sind die metabolischen Nebenwirkungen, insbesondere im Methylstoffwechsel, bislang nicht ausreichend untersucht. Das gilt v.a. für den möglichen Anstieg von Homocystein und die Depletion von für die Zellgesundheit entscheidenden Methylgruppen. Eine parallele Supplementierung mit Methylgruppenspendern und ein engmaschiges Monitoring sollten für eine sichere und individuell zugeschnittene Therapie Teil zukünftiger Studien und Therapiekonzepte sein.

Literaturverzeichnis

Shukla AG, Cioffi GA, Liebmann JM. Drug-Induced Liver Injury During a Glaucoma Neuroprotection Clinical Trial. J Glaucoma. 2024 Aug;33(8):e58-e59. doi: 10.1097/IJG.0000000000002394.

  • Relevanz: Berichtet über einen Fall medikamentös induzierter Leberschädigung bei 3 g/Tag Nicotinamid in der Studie NCT05695027

Williams PA, Harder JM, John SWM. Glaucoma as a metabolic optic neuropathy: NAD⁺ and nicotinamide as key protective molecules. Exp Eye Res. 2017;157:106–114.

  • Relevanz: Grundlagenarbeit zur Rolle von NAD⁺ und Nicotinamid bei retinalen Ganglienzellen

Galvis V, Tello A, Parra E, et al. Role of nicotinamide in glaucoma: A review of the scientific evidence. J Curr Glaucoma Pract. 2022;16(3):141–151.

  • Relevanz: Übersichtsarbeit zu Nicotinamid-Mechanismen beim Glaukom

Brusini P, Johnson CA, McKendrick AM. Retinal ganglion cell metabolism and nicotinamide: Emerging therapeutic strategies for glaucoma. Prog Retin Eye Res. 2023;92:101121.

  • Relevanz: Review über B3-Mechanismen und neuroprotektive Ansätze