Wie Glukosestoffwechsel die Augen gefÀhrdet
Als Augenarzt beobachte ich mit zunehmender Sorge die steigenden Zahlen von Diabetes-Patienten und den damit verbundenen Augenkomplikationen. Ein SchlĂŒsselmechanismus, der bei diabetischen Augenerkrankungen eine zentrale Rolle spielt, ist der sogenannte Polyol-Weg oder Sorbitol-Weg. Dieses biochemische System kann bei erhöhten Blutzuckerwerten aktiviert werden und fĂŒhrt zu SchĂ€digungen in verschiedenen Augengeweben.
Etwa 10 % der Erwachsenen in Deutschland leiden an Diabetes mit deutlich steigender Anzahl
Der Polyol-Weg ist ein zweistufiger Stoffwechselpfad, bei dem Glukose zunĂ€chst zu Sorbitol und anschlieĂend zu Fruktose umgewandelt wird. Unter normalen UmstĂ€nden lĂ€uft nur etwa drei Prozent des Glukosestoffwechsels ĂŒber diesen Weg. Bei erhöhten Glukosekonzentrationen in der Zelle wird er jedoch deutlich stĂ€rker aktiviert.
Das erste Enzym dieses Weges, die Aldose-Reduktase, hat eine niedrige AffinitĂ€t zu Glukose. Das bedeutet, es wird erst bei hohen Glukosekonzentrationen aktiv – genau das, was bei Diabetes mellitus der Fall ist. Das zweite Enzym, die Sorbitol-Dehydrogenase, wandelt das entstandene Sorbitol zu Fruktose um.
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Interessanterweise existiert der Polyol-Weg nicht ohne Grund in unserem Körper. In manchen Geweben wie den SamenblÀschen dient Sorbitol als osmotischer Regulator und Energiereserve. Auch bei bestimmten Tieren spielt er eine Rolle bei der Anpassung an extreme Umweltbedingungen.
Das Problem entsteht, wenn dieser normalerweise wenig aktive Stoffwechselweg durch chronisch erhöhte Glukosespiegel ĂŒberaktiviert wird. Dies kann sowohl bei dauerhaft leicht erhöhten Blutzuckerwerten als auch bei hĂ€ufigen starken Glukosespitzen geschehen.
Lange Zeit dachte man, dass nur starke Blutzuckerspitzen den Polyol-Weg aktivieren. Neuere Forschung zeigt jedoch, dass beide Muster problematisch sind. Starke postprandiale Glukosespitzen fĂŒhren zu intensiver, aber zeitlich begrenzter Aktivierung mit hoher Sorbitolproduktion. Chronisch leicht erhöhte Glukosewerte bewirken hingegen eine dauerhafte, kumulative Belastung des antioxidativen Systems.
Besonders gefĂ€hrlich ist die Kombination aus chronisch erhöhter Grundglukose und hĂ€ufigen Spitzen – ein Muster, das bei schlecht eingestelltem Diabetes hĂ€ufig auftritt.
Der ĂŒberaktivierte Polyol-Weg hat mehrere schĂ€dliche Auswirkungen auf die Augengewebe:
Osmotischer Stress: Sorbitol kann nicht frei durch Zellmembranen diffundieren und reichert sich in der Zelle an. Dies fĂŒhrt zu Wassereinstrom und Zellschwellung, was besonders in der Augenlinse zur Kataraktbildung beitragen kann.
Oxidativer Stress: Der Polyol-Weg verbraucht NADPH, ein wichtiges Coenzym fĂŒr die Regeneration von Glutathion – einem der wichtigsten antioxidativen Schutzsysteme der Zelle. Der dadurch entstehende Mangel an reduziertem Glutathion macht die Zellen anfĂ€lliger fĂŒr oxidative SchĂ€den.
EntzĂŒndungsförderung: Die Aktivierung des Polyol-Weges kann inflammatorische Prozesse verstĂ€rken und zur SchĂ€digung der Blut-Retina-Schranke beitragen.
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Verschiedene Strukturen des Auges enthalten die Enzyme des Polyol-Weges und sind daher bei Diabetes besonders gefÀhrdet:
Netzhaut: Ganglienzellen, MĂŒller-Zellen und GefĂ€Ăzellen (Perizyten und Endothelzellen) exprimieren Aldose-Reduktase. Die Aktivierung des Polyol-Weges in diesen Zellen trĂ€gt zur diabetischen Retinopathie bei, einschlieĂlich Neurodegeneration, GefĂ€ĂschĂ€den und Makulaödem.
Augenlinse: Hier kann die Sorbitol-Akkumulation zu osmotischen VerĂ€nderungen fĂŒhren, die zur Entstehung diabetischer Katarakte beitragen.
Hornhaut: Auch Hornhautgewebe kann betroffen sein, was zu Wundheilungsstörungen und epithelialen Problemen fĂŒhren kann.
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Das VerstĂ€ndnis des Polyol-Weges hat zur Entwicklung spezifischer Inhibitoren der Aldose-Reduktase gefĂŒhrt. Diese sogenannten ARI (Aldose Reductase Inhibitors) können in Tiermodellen erfolgreich diabetische Augenkomplikationen verhindern.
Beim Menschen waren die Ergebnisse klinischer Studien mit ARI jedoch enttÀuschend. Dies könnte daran liegen, dass die verwendeten Medikamente nicht ausreichend wirksam waren oder dass der Polyol-Weg beim Menschen eine andere Rolle spielt als bei Versuchstieren.
FĂŒr Diabetiker ist die wichtigste prĂ€ventive MaĂnahme eine optimale Blutzuckereinstellung. Dies bedeutet nicht nur die Vermeidung hoher Durchschnittswerte, sondern auch die Minimierung von Glukoseschwankungen.
Praktische AnsĂ€tze umfassen die Bevorzugung langsam resorbierbarer Kohlenhydrate, regelmĂ€Ăige körperliche AktivitĂ€t und bei Bedarf eine Optimierung der Diabetes-Medikation. Auch antioxidative NĂ€hrstoffe könnten theoretisch hilfreich sein, um die durch den Polyol-Weg verstĂ€rkten oxidativen SchĂ€den zu begrenzen.
Die Forschung zum Polyol-Weg geht weiter. Neue, wirksamere Aldose-Reduktase-Inhibitoren werden entwickelt, und es wird untersucht, ob kombinierte TherapieansÀtze erfolgreicher sein könnten.
FĂŒr Patienten mit Diabetes bleibt die Botschaft klar: Eine konsequente Blutzuckereinstellung ist der beste Schutz vor diabetischen Augenkomplikationen. Der Polyol-Weg zeigt uns auf molekularer Ebene, warum schon moderate, aber chronische Blutzuckererhöhungen langfristig schĂ€dlich sein können.
Lorenzi et al. (2007), Diabetes-Zeitschrift Polyol-Pathway-Studien (2003), Aldose-Reduktase-Inhibitor-Studien, oxidativer Stress bei Diabetes mellitus, diabetische Retinopathie-Mechanismen.